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Trauer um Zoe-Carine


Von Mr. A,
22. Juli 2020

Ein Plädoyer für die Verlustangst.

Und wie wir gemeinsam die Trauer umarmen.

Heute morgen, zum Sonnenaufgang vor einer Woche, hat sich mein geliebter Engel, Zoe-Carine, der Mensch an meiner Seite, meine langjährige Hauptbeziehung, das Leben genommen.

Trauer.

Die Angst, sie zu verlieren, dass sie diesen Schritt tun würde, hing seit Monaten wie ein bleierner Vorhang über uns, eingehüllt in Nebel. Verlustangst, die Sorge einen geliebten Menschen zu verlieren, ob als harte Trennung im Leben, ohne weitere Erklärung, einfach alles hinterlassen und weg, fühlt sich an wie ein Tod. Diese Erfahrung kenne ich. Manchmal verdrängen wir diese Angst und denken, das wird schon. Liebe kann alles heilen.

Und wenn Liebe nicht alles heilt?

Mehr noch als eine harte Trennung unter Lebenden, trifft die Trennung das Herz durch den Freitod. Die Nachricht haben drei um Pietät bemühte Polizeibamte am Abend danach in unsere Wohnung getragen. Herr A., bitte setzen Sie sich.

Ich wollte mich nicht setzen.

Man sollte die Verlustangst nicht abtun. Selbstvorwürfe und die Frage, was ich noch hätte besser tun können sind auch keine Hilfe. Und welche Bedeutung hat das jetzt für unsere Polyamorie? Soll ich nun weniger trauern, weil da noch jemand anderes ist? Welch absurder Gedanke.

Was kommt, wenn die Verlustangst, dieses grau-dumpf flüsternde Monster, der Dämon, dessen grünäugig fauchender Bruder, der Neid, und deren kleine schwarz-fiese Schwester vom Stamme der Minderwertigkeitdämonen gemeinsam das furchtbare Ungetüm der Eifersucht bilden, was, wenn nun diese mahnende, angsterfüllte Stimme des nahenden Unglücks über die Liebe gesiegt hat, ja sogar das Leben selbst besiegt hat und auch die letzte Hoffnung? In gelebter Polyamorie kann der oder können die verbleibenden Partner da sein.

Ein schluchzender Anruf bei der Geliebten. Meine Polyamorie war seit zwei Jahren bereits transformiert in diese seltsamen Übergangsstadien zwischen sich auflösender Persönlichkeit durch die Psychose der einen Liebsten und dem Wegzug der anderen, ins Ausland, zu einer neuen Liebe. Ich schaue in den Spiegel, sehe mich weinen.

Nun sind alle weg.

Die eine war ganz nah und unheilbar krank, kaum noch in der Lage zu lieben und Liebe anzunehmen, die andere ist weit weg und voller Mitgefühl. Sie lebt inzwischen in einer monogamen Verbindung.

Aus dem Handy spricht es: „A.! Du bist ein Teil meiner Familie! Ich bin für Dich da.“ Ihre Anteilnahme ist mein erster Trost und weil sie meinen kleinen Engel sehr mochte, ist auch ihre Trauer mein Trost. Wir hatten oft darüber gesprochen, wie schlimm eine psychotische Erkrankung sich auf die Lebenskraft auswirkt. Sie hätte sich damit nicht befassen müssen. Doch ihre Liebe ist auch Mitgefühl, nicht nur Vergnügen oder Unverbindlichkeit in guten Tagen.

Dann wieder alleine.

In den ersten drei Tagen ertrage ich nicht mal den Anblick der Handtasche im Flur an der Garderobe. Das Glas auf dem Küchentisch. Der Schrank mit den vielen Teesorten, die ich nie mochte und ihre süße Schlafmaske am Kopfende des Doppelbettes. Meine ehemalige Geliebte ruft jeden Tag an: Wie geht es Dir heute? Was kann ich tun? Weißt Du was, Du besuchst und ganz bald und dann gehen wir wandern… ein erstes Lächeln. Polyamorie kann auch heilen.

Sogar ihr liebevoller Freund sendet mir eine SMS und wünscht ganz viel Kraft. Das müsste er natürlich nicht tun – aber wir stehen uns auf eine freundschaftliche Weise nahe, auch ohne Eros und Sexualität. Wir sind eine dieser „erweiterten Familien“ geworden, so wie Morning-Glory Zell-Ravenheart es damals beschrieben hat, als die den Polyamoriebegriff erfand. Sie schrieb 1990: „Seit großartig zueinander!“

Und das sind die beiden nun, zusammen mit meinen beiden erwachsenen Kindern, die ebenfalls versuchen die Tränen des Vaters mit einfühlsamen Worten und langen Gesprächen zu trockenen. Ein guter Freund war gleich bei mir, einige andere haben am Telefon mit mir geweint und jemand, den ich noch gar nicht lange kenne, hat spontan einen Mantra-Gesang mit Freunden aufgenommen und mir per Sprachnachricht gesendet. Jeder an seiner Stelle, an seinem Ort in Leben. Wie wunderbar!

Und doch – Trauer.

Sie kommt in Wellen. Jedes Teil in der Wohnung springt mir ins Herz und reißt die Wunde weiter auf. Nur Tränen vermögen sie zu schließen. Jeder Tropfen macht die Wunde etwas kleiner. Es wird Zeit brauchen. Und Dankbarkeit. Dankbarkeit für die unendliche Großmut des kleinen Engelchen an meiner Seite in den ganzen Jahren.

Für Momente, in denen sich unsere Hände fanden, wir uns achtsam streiteten, die gemeinsamen Festivals und ihre Gelassenheit, wenn ich ihr von den vielen Versuchen erzählt habe, eine weitere feste Beziehung zu finden. Sie konnte mir immer vertrauen, dass ich unsere Liebe niemals verraten habe, im Unmut zu einer anderen gegangen bin oder hinter ihrem Rücken meinen Kummer mit ihr woanders breitgetreten hätte. Sie hatte es mir so sehr gewünscht, noch jemand zu finden. Kraftlos zuletzt und ganz weich.

Und nun fand sie keinen Ausweg mehr. Die Ärzte konnten ihr überhaupt nicht helfen. Psychosen sind kaum erforscht. Es ist die Hölle. Alles nur noch schlimmer mit chemischen Eingriffen ins Gehirn und Heilung war dennoch nicht in Aussicht. Auch ich war am Ende meiner Kraft. Den letzten Weg, sagte gestern meine Ex-Beziehung, mit der mich auch einst eine polyamore Liebe verbunden hatte, den geht man im Zweifel alleine. Auch sie ist an meiner Seite. Auch sie lebt heute wieder monogam, wie vor unserem Experiment. Auch wir bleiben einander verbunden.

Dankbarkeit.

Dafür, den Weg gemeinsam gegangen zu sein. Für den Mut, den mir meiner Liebsten immer gemacht haben, z.B. meiner Intuition mehr zu vertrauen. Mut, um in Namibia zu arbeiten. Mut, um immer wieder neu auf die kleinen Sorgen des Alltags zu schauen, für unsere Loyalität, dass wir echte Gefährten waren und für die Geschenke der Liebe. Für die Momente zu Dritt mit unserer Geliebten im Wohnwagen bei Kerzenlicht, am See bei meiner Rhea nach der Heilung vom Krebs und beim Heimkino auf dem Sofa. Und manchmal im Bett gemeinsam vergnügt und erstaunt zu dritt über das, was hierbei zwischen uns entstehen kann.

Man darf Angst vor dem Verlust haben.

Die Verlustangst, das grau-dumpf flüsternde Monster hat gesiegt. Unsere Trennung ist nun Realität. Und es ist gut, dafür zu trauern. Egal ob eine lebendige Trennung, mit hartem Kontaktabbruch und ohne jede Erklärung oder auf eine noch radikalere Weise, so wie jetzt, wenn das Grau des Nebels der bleiernen, schwarz grauen Trauer Platz macht.

Manchmal, auch wenn man es nicht abwenden kann, kann man das Kommende ahnen. Und manchmal kann man es mit aller Liebe nicht aufhalten. Im tiefen Tal mehr als einen Menschen zu haben, das hilft meiner Trauer. Sie hat für mich so, auf ihre, auf meine Art, eine lilafarbige Dunkelheit und Milde, ist ganz ohne Hass und Angst, ohne wütend zu sein, das ich „verlassen“ wurde. Denn meinen Verlust kann ich bearbeiten und glauben, dass es ihr nun besser geht, wo sie nun ist.. wie auch immer. Das gibt mir Zuversicht.

Die Trauer soll nun mein Freund sein für eine gemessene Zeit. Denn nun sind beide Liebsten als Partner weg. Die Kinder sind schon lange aus dem Haus und haben eigene Partner – es ist still in der Wohnung – grau still für eine wichtige Zeit. Und im Idealfall wird sie kleiner, die grau-bleierne Trauer, wenn wir Hinterbliebenen uns sie teilen.

Eben war ich mit Freunden beim Vietnamesen. Und ein ganz süßes, junges Pärchen hat ganz verliebt am Nachbartisch gegessen. Sie hat immer ihre Augen so von unten aufgeschlagen und ihn verliebt angeschaut und er, mit seinen tollen Tattoos an beiden Armen hat gestrahlt wie ein Honigkuchenpferd…

Als wir bezahlt haben, ging ich zu den beiden rüber und hab mich vor ihren Tisch gehockt: „Entschuldigung, ich habe euch eben bei unserem Essen vom Nachbartisch aus gesehen und möchte einfach sagen, dass ich euch beide unglaublich süß zusammen finde. Ich weiß ja nicht wie ihr zueinander steht, aber es hat mir große Freude gemacht, euch beide hier so zu sehen. Ich wünsche euch noch einen zauberhaften Abend.“

Die Überraschung in ihren Gesichtern hat mich wiederum beschenkt. Erst dachten sie, was will denn der Typ hier? Und dann sah ich ihre strahlenden Augen. Ein Geschenk wie gerade zuvor die Freundschaft meiner Ex (der vor meinem Engelchen) mit ihrem inzwischen auch langjährigen Freund bei einem gemeinsamen, wunderbaren Mahl. Ich fühle mich gesegnet.

Was bleibt ist Freundschaft. Nach der Verlustangst, wenn die Trauer sich für Momente lichtet. Liebe ohne Sex und Eros. Beziehung in familienähnlicher Verbundenheit, im Herzen mit liebevollen Erinnerungen an meinem kleinen Engel und über die Ferne mit meiner Ex-Geliebten und ihrem wunderbaren neuen Freund und mit noch einer Ex mit ihrem tollen Mann hier in meiner Nähe. Das ist jetzt nicht so wichtig.

Wir teilen meine Trauer. Wir umarmen sie. Poly Amore!

Mein kleiner Engel ist nun im Himmel.

Zoe, ich liebe Dich!