Geschichten

Utopisches Fenster

Utopisches Fenster
aus: Kyaras Kodenet 3-21

© JuliTopia 2021
https://steadyhq.com/de/julitopia/about
Das Fenster entstammt der Utopian Fiction-Serie Kyaras Kodenet, die ich monatlich
über die Plattform Steady veröffentliche. Es geht darum, durch eine Erzählung
alternative Zukünfte und Ansätze, die dafür jetzt bereits in Nischen gelebt werden,
kennenzulernen und als lebendig zu erfahren.
1 | Poly-Durcheinander
Aus der Themendimension 2: „Dynamische Balance halten“
Unterthema: Polyamorie
Darum geht‘s bei diesem Fenster:
Im Jahr 2055 ist ein beachtlicher Teil von partnerschaftlichen
Beziehungen polyamor. Es herrscht eine Vielfalt der
Beziehungsformen – grundsätzlich gilt, dass jedy so leben und
sich orientieren kann, wie yks es zu einem bestimmten Zeitpunkt
für richtig hält. Die vierundzwanzigjährige Kyara lebt aktuell eine
offene Beziehung mit einem Mann, der seit kurzem eine weitere
Freundin hat, die Kyara jedoch kaum kennt. An diesem Abend
lernt sie ebenfalls jemensch kennen, zu dem sie sich hingezogen
fühlt. Alles könnte so einfach sein …
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Kyara trat zögernd und etwas ratlos ein.
„Ja, ja! Du auch! Komm!“, rief Lucy Yon zu und war schon wieder auf dem Weg zur
Treppe.
Kyara sah ihn fragend an.
„Ach, was soll‘s.“ Yon folgte ihr und schloss zögernd die Tür hinter sich.
Dutzende Lichter, pastellfarben gedämpft, strahlten ihnen schon im Treppenhaus
entgegen. Sie folgten Lucy in den ersten Stock, zogen ihren Schuhe aus und
durchquerten das geräumige Wohnzimmer der Wohnung, wo mehrere Menschen in den
Ecken lagerten, einige eng umschlungen, inmitten von Vorhängen, weichen Kissen und
Decken. Auch in den anliegenden Zimmern war das Licht gedämpft. Die Luft vibrierte
in sanften, psychedelischen Tönen. Kyara spähte nervös in die Zimmer, von Reik fehlte
aber jede Spur.
Lucy ging vor in die Küche. Hier schien wie immer die Auszeit-Zone zu sein; das Licht
war normal und nur ein einzelner Mensch in einem schlangenhautfarbenen
Ganzkörperanzug saß an der Anrichte, ein Getränk vor sich. Er begrüßte Lucy freudig,
als hätte er sie Jahre nicht gesehen.
„Möchtet ihr was trinken?“
„Danke, gern ein Wasser“, sagte Kyara. Sie und Yon ließen sich auf einem der freien
Sofas nieder.
Der Schlangenmensch wandte sich Yon zu.
„Wer bist du denn? Dich hab ich hier noch nie gesehen!“
„Ich bin nur zufällig hier.“ Yon schien nicht ganz wohl in seiner Haut zu sein. „Ich
nehme … einen Wein, wenn ihr habt.“
„Zufällig?“
Die Schlange lachte amüsiert.
„Lucy, hast du gehört? Er ist zufällig hier! Das Wort hab ich ja dreißig Jahre nicht
gehört!“
„Wein kommt gleich!“, meldete Lucy. „Wo ist eigentlich Reik?“
„Wir haben uns im Getümmel verloren, nach dem … ähm Ausfall“, erwiderte Kyara.
Lucy lachte. „Ja, was für ein Chaos! Niemy weiß irgendetwas! Nur feiern können wir
noch.“ Die Schlange prostete Lucy zustimmend zu.
Kyara befreite sich umständlich aus ihrem Mantel. Sie hatte keinen Schimmer, was sie
tun würde, wenn Reik und Min gleich eintreffen würden. Der Abend wurde zunehmend
absurd.
Die Schlange warf ihr einen neckischen Blick aus ihren schlitzartigen Pupillen zu und
Kyara nestelte verwirrt an ihren lichtbestickten Ärmeln herum.
Lucy lächelte ihr zu und drückte ihnen Wein und Wasser in die Hände.
„Auf … keine Ahnung auf was!“ Kyara hob ihr Wasserglas.
Yon und sie stießen an. Die Musik von drinnen war angeschwollen. Der
Schlangenmensch stand auf, drehte sich mit Lucy einige Schritte tanzend im Kreis, dann
verschwanden sie aus der Küche.
„Wie … ähm … findest du es hier? … Ich meine, in der Auszeit-Zone?“, fragte Kyara.
Gott, eine bescheuerte Frage, hatte sie die wirklich gestellt?
Yon beugte sich vor und stützte seine Ellbogen auf das Leopardenfell über seinen
Knien.
„Gut. Ich bin übrigens mono, falls ich es dir noch nicht erzählt habe.“
„Und warum überrascht mich das nicht“, seufzte Kyara.
Etwas daran war erleichternd. Sie hielt seinem strahlenden, bernsteinfarbenen Blick
stand. Gerade beim ersten Mal beängstigend: Als blickte mensch in das unendliche
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Universum des anderen, in dem alles Wissen und alle Gedanken präsent waren. Draußen
jagte der Wind eine Böe neuen Schnees über die Fensterscheibe.
„Sagen wir so, ich mag Auszeit-Zonen, aber ich ziehe Sofas vor, die in Wohnzimmern
stehen.“
Kyara senkte den Blick und richtete sich auf. Irgendetwas war völlig unklar zwischen
ihnen. Und er war mit verantwortlich, er hatte nicht einmal genauer erklärt, ob er
grundsätzlich mono war oder in Hinblick auf einy andery … Eine cis-Frau?
Sie gingen ins Wohnzimmer und ließen sich in einer Ecke auf einer Matratze nieder,
einander gegenüber mit dem Rücken zur jeweiligen Wand. In der Mitte des Raums
tanzten nun, umschlungen und sich küssend, zwei Frauen. Das weiße Rüschenkleid der
einen umschmeichelte das Spitzenhemd und die braunen kurzen Sporthosen der
anderen.
Yon hatte seinen Kranz abgesetzt. Mit verstrubbeltem Haar warf er nervöse Blicke zu
den beiden Frauen hinüber, demonstrativ wegzuschauen schien für ihn noch weniger
Sinn zu machen als hinzuschauen.
Dann sah er wieder zu ihr, im sanften Halbdunkel fast nachdenklich.
Warum bist du mir begegnet?
Ohne sein Vogelnest auf dem Kopf sah er eigentlich ganz gut aus.
Diesmal hielt Kyara seinen Blick länger aus. Die Frage webte sich in ihr Bewusstsein
und die weichen elektronischen Wellen, die die Luft erfüllten. Sie brandete sanft an ihre
Füße, die genossen, dass sie nicht mehr in den engen Schuhen steckten. Sie steckte in
der kühlen Wand an ihrem heißen Rücken, in den rhythmischen Bewegungen der beiden
tanzenden Körper, die sich voneinander entfernten und dann wieder annäherten; im
Wechselspiel der Schatten eines sich drehenden Lichtes am anderen Ende des Raumes;
im fließenden Tanz des konzisen Takts und der wabernden elektronischen Klänge. Ein
elektrischer Stoß traf ihren linken Zeh. Yons Fuß lag neben dem ihren. Ein Feuer
züngelte auf und verschlang sie bis zu den Schultern. Kyara saß reglos da. Die Frage
löste sich auf, zerfiel in kleine Gedankenstückchen, die in den elektronischen Wogen
verschmolzen. Sie hob den Blick und suchte die Bernsteinaugen, im Dämmerlicht wie
verschleiert. Ein Verlangen fraß sich durch ihren ganzen Körper, sie rückte etwas vor,
saß nur da und sah das andere Wesen an.
Jäh bewegte sich etwas unter ihr, die Matratze, ein Druck auf ihren Schultern, ein
warmer Atem in ihrem Nacken. Yon, ganz nah vor ihr, wich an die Wand zurück. Reiks
Rasierwasser hing über ihr, schelmisch biss er in ihr Ohr. Kyara, steif wie ein Brett,
verlor das Gleichgewicht und kippte auf Yon, sie hingen zu dritt verkeilt ineinander.
Kyara streifte Yons Nacken, etwas Silbernes fiel aus seinem Ohr, kein Agentyknopf …
was bitte war das?
Kyara richtete sich auf.
„Okay, Stopp!“
Reik ließ sich überrascht nach hinten auf die Matratze fallen. Min stand am anderen
Ende des Raums, beobachtete sie aber unverhohlen.
Quälend lange Minuten rang Kyara um Worte, stammelte Ansprüche und Vorwürfe,
während die Wohnzimmergemeinschaft aufgeschreckt lauschte, aber machte es nicht
besser. Reik schien wütend darüber, so abgewiesen worden zu sein, aber mit welchem
Recht? Yon hielt sich zurück, als hätte er mit allem nichts zu tun, was Kyara noch
wütender machte. Jemensch bot ihnen einen Gesprächskreis an, alle lehnten dankend ab.
Fünf Minuten später trampelten sie die Treppe hinunter, Yon voran, den demolierten
Kranz in der Hand. Eine Efeuranke hatte sich gelöst und schleifte hinter ihm her. WAS
hatte sie Reik nur an den Kopf geworfen? Einen Salat von Versatzstücken, als wären
alle Anteile in ihr auseinandergerissen und explodiert, nichts anderes übrig geblieben
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war ihr als die Fragmente zusammen zu raffen und zu türmen. Es war der albernste
Auftritt, den sie sich je geleistet hatte. So albern, dass es schmerzte.
Der Nachtfrost biss ins Gesicht, ein Segen! Wieder war sie eisklar und hellwach. Die
letzte Stunde erschien wie ein Rausch, ein Traum, alles ununterscheidbar zugleich.
Kyara blieb stehen, die schwere Tür hinter ihnen fiel zu.
„Tut mir leid – ich – “
„Bei mir brauchst du dich nicht entschuldigen“, sagte Yon. „Allerdings sollten wir uns
entscheiden, in welche Richtung wir überstürzt weggehen.“
„Keine Ahnung!“, schrie Kyara. Mit weichen Knien schwenkte sie nach links. Yon
dehnte heiter seine Brust und atmete tief ein.
„Mann, was für eine Nummer! Lang nicht so verklemmt gefühlt!“, sagte er insbrünstig.
Kyara gluckste und sagte dann mit zittriger Stimme:
„Und – ich habe kein einziges Gefühl artikuliert bekommen. Ich habe kein Bedürfnis
gesehen, null einfühlsam zugehört, hab Reik angeklagt und hatte nur eine Absicht – weg
zu sein!“ Sie streckte die Arme zum Himmel. Irgendeine Naht ihres Kostüms riss ein.
„Scheiße! Ich habe es einfach nur verkackt.“
Yon bot ihr eine Zigarette an, aber Kyara lehnte ab.
„Willkommen im 20. Jahrhundert!“, sagte er. „Da sind wir alle als emotional verwirrte
Egos rumgelaufen.“ Nach einer kurzen Pause fügte er beeindruckt hinzu: „Es wollte
noch nie ein Typ an meinem Ohr knabbern.“
Kyara brach in Lachen aus.
Fragen:
1. Was fällt dir spontan zur Szene ein – findest du irgendetwas daran unplausibel oder
im Gegenteil sehr nachvollziehbar? Hast du Fragen oder (auch kritische) Anmerkungen
zur Szene?
2. Wie hättest du die Situation gelöst, wenn du an Kyaras (oder Reiks) Stelle gewesen
wärest?
3. Glaubst du, dass Menschen einer solchen Welt 2055 über solche Probleme hinweg
sein werden und wenn ja, was für neue Probleme könnten sie dann haben?
Sende deine Antwort auf eine oder mehrere der Fragen per Mail bis zum 15. Dezember
2021 an Julia.Fuchte@utopisch-wissen.de
Deine Antworten werden den Editionsprozess der Story bereichern, die du hier live
mitlesen kannst: https://steadyhq.com/de/julitopia/about
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